Zorn
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 1742 f


1. Gegen ein drohendes od. schon eintretendes Übel wehrt sich der Mensch meistens mit Z., mit leidenschaftl. seelischem Widerstand, der oft zum Gegenschlag gegen den Verursacher des Übels ausholt (Thomas v. A., S.Th. 1,2 q.46 aa.1.2; q.47 a.1).

Wie jede sinnl. Regung hat auch der Z. keinen sittl. Charakter, solange er als von selbst auftretend durch keine Willensentscheidung des Menschen erreicht wird. Allerdings hat der Mensch die Aufgabe, sich nicht treiben zu lassen, sondern die leidenschaftl. Regung zu bewältigen (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.158 a.1).


2. Es gibt einen gerechten Z., eine Abwehr, die durch wirkl. Unrecht hervorgerufen wird u. das rechte Maß nicht überschreitet. Dieser gezügelte Z. ("langsam zum Z.", Jak 1,19) verletzt die sittl. Ordnung nicht. Das Christentum verlangt nicht, daß man dem Bösen in unrühml. Schwäche freien Lauf lasse. Das stoische Ideal der Leidenschaftslosigkeit ist nicht das Ideal des Christen (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.158 a.10).

Der gerechte Z. kann sogar zum heiligen Z. werden, näml. dann, wenn sich der Zürnende nicht gegen eine erlittene Ungerechtigkeit, sondern gegen die Verunehrung Gottes u. das dem Mitmenschen angetane Unrecht stellt. Jesus, der die Händler u. die Käufer aus dem Tempel treibt u. gegen unbußfertige Städte sowie gegen Schriftgelehrte u. Pharisäer auftritt, ist dafür Vorbild (Mt 21,12 f; 11,20-24; 12,38 f; 23; Mk 3,5; im AT Moses gegenüber dem Ungehorsam u. dem Abfall Israels, Ex 16,20; 32,19; Pinchas gegenüber dem Israeliten mit der midianitischen Buhlerin, Num 25,7 f; Jeremias als Künder des Z.es Gottes, Jer 6,11; Mattatias gegenüber dem syrischen Götzendienst, 1 Makk 2,24-28; vgl. Thomas v. A., S.Th. 3 q.15 a.9).

Christl. Tugend besteht nicht in Schwäche, sondern in gefaßter Kraft. In dieser Weise ist die Seligpreisung der Sanftmütigen zu verstehen (Mt 5,5; Gal 5,23; 6,1), denen Christus ("Lernet von mir, denn ich bin sanftmütig u. demütig vom Herzen", Mt 11,29) u. der Vater im Himmel ("Er läßt seine Sonne aufgehen über das Böse u. Gute u. läßt regnen über Gerechte u. Ungerechte", Mt 5,45) Vorbilder sind. "Wenn ihr zürnt, so sündigt nicht. Die Sonne soll nicht untergehen über eurem Z., u. gebt dem Teufel keinen Raum" (Eph 4,26 f; vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.157).


3. Zur Sünde wird der Z., wenn man ihn ungezügelt gewähren läßt od. entgegen der sittl. Ordnung nährt (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.158 a.2). "Denn der Zorn eines Mannes erfüllt nicht die Gerechtigkeit Gottes" (Jak 1,20; vgl. Gen 4,5; Spr 12,16; 19,19; 22,24 f; Koh 7,10; Sir 1,22; 27,30; 28,3-5; 30,24; Mt 5,22; Lk 15,28; Röm 12,19; 1 Kor 13,5; 2 Kor 12,20; Gal 5,20; Eph 4,31; Kol 3,8; 1 Tim 2,8; Offb 11,18). Solcher Z. kann zur Sünde werden, die vom Himmelreich ausschließt (vgl. Gal 5,20 f), also zur schweren Sünde (vgl. Thomas v. A., S.Th. 2,2 q.158 aa.3.4). Es ist offenkundig, daß aus dem Z. eine Menge anderer Sünden entspringt (Hauptsünde; Laster; vgl. Spr 29,22; Thomas v. A., a.a.O. aa.6.7).


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