Natur
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1969, Sp. 861-864


Von den vielen Bedeutungen, in denen das Wort N. verwendet wird, interessiert in der Moraltheologie vor allem die N. des Menschen, spielt doch in seinem sittl. Leben seine N. eine wesentl. Rolle.


1. N. (lat. natura v. nasci = entstehen, griech. physis v. phyesthai = aufgehen) bezeichnet im allg. das grundlegende Element der Seinsverwirklichung eines Seienden, durch das dessen Tätigkeit ermöglicht u. bestimmt wird. Wenn dieses Grundelement sich nicht ständig selbst setzt (Pantheismus), sondern in seinem Sosein mit der Fähigkeit zur eigengesetzl. Entfaltung v. der Schöpfermacht Gottes gesetzt u. getragen wird, ist N. vom Wollen u. Wirken Gottes gezeichnet (vgl. Thomas v. A., In Eth. Nic. 7,13; S.Th. 1 q.103 a.1 ad 3; 2,2 q.154 a.12 ad 1.2).

Zur Eigenart der menschl. Natur gehören Geistigkeit (in Erkennen u. Freiheit) u. Leiblichkeit, Zweigeschlechtlichkeit, soziale Bezogenheit, Weltbezogenheit, Gottbezogenheit. Da für die spezifische menschl. Seinsverwirklichung Erkennen u. Wollen (Liebe) eine wesentl. Rolle spielen u. diese Tätigkeiten sich nicht auf einen geschlossenen Bereich v. Seiendem beschränken, sondern für alles offen sind, ist auch die menschl. N. nicht etwas Geschlossenes u. Überschaubares, sondern bleibt über sich selbst hinaus offen (Transzendenz; vgl. Thomas v. A., De an. II 5; De ver. 1,1; S.Th. 3 q.9 a.2 ad 3) bis zum Absoluten, Ewigen (vgl. S.Th. 1 q.88 a.3 ad 1; 3 q.4 a.1). Was v. den in der N. des Menschen angelegten Möglichkeiten jeweils verwirklicht wird, hängt v. ihm selbst ab; als Person übernimmt er selbst seine Vorgegebenheiten u. wirkt so an der Verwirklichung seiner Möglichkeiten entscheidend mit (Existenz), ohne freil. jemals diese Möglichkeiten ganz ausschöpfen zu können. So ist der Mensch nie Fertigseiendes, sondern immer auch Seinkönnendes, das durch seine eigene Entscheidung zu neuen Verwirklichungen gelangen kann; das Werden (Geschichte) gehört zur menschl. N. Objektiver Ausdruck des Selbstvollzugs od. der Ausfaltung der menschl. N. in ihrer Beziehung zur Welt sind die verschiedenen Kulturen; Kultur ist v. der N. des Menschen nicht zu trennen, muß vielmehr als für sie kennzeichnend angesehen werden. Was alles zur N. des Menschen gehört, welche Möglichkeiten sie in sich schließt, kann nicht v. vornherein ausgemacht werden. Vielmehr ist dabei immer auch auf die Offenbarung dieser Möglichkeiten im geschichtlich Gewordenen zu achten. Manche Strukturelemente der menschl. N. weisen darauf hin, daß diese in ihren Verwirklichungen stark vom Werden u. damit v. der Veränderung gekennzeichnet ist. Immerhin aber gibt es neben dem Veränderlichen bleibende Strukturen im Menschen.

Eben diese bleibenden Strukturen sind als vom Schöpfer vorgegeben durch den Menschen in seiner freien Selbstgestaltung (Existenz) zu achten. Durch ein Entscheiden dagegen würde er in Widerspruch zu seiner eigenen N., d.h. letztl. zu Gott, der die N. gerade so gewollt hat, geraten. Der Mensch würde z.B. durch die freie Entscheidung für ein Tun, das ihn für die Zukunft zu freier Entscheidung unfähig macht, gegen eine Grundstruktur seiner N. verstoßen. Das Sollen, das die bleibenden Strukturen dem Verhalten des Menschen auferlegen, nennen wir natürl. sittl. Gesetz. Die Grundlage dieses Sollens bildet eben die (metaphysische) N. des Menschen, d.h. seine bleibenden Strukturen; aus ihnen leitet die Vernunft das Gesetz für das freie Handeln ab u. sucht es in entsprechenden Formulierungen zu fassen. Aus bleibenden Strukturen muß sich auch ein bleibendes Sollen ergeben, ein apriorisches Gesetz für das Verhalten des Menschen, das in allg.gültigen u. unveränderl. Sätzen formuliert werden kann. Zu fragen ist freil., ob dem Menschen die Formulierung dieses Sollens immer adäquat gelingt.


2. Zur N. des Menschen gehören gewisse bleibende Strukturen; ohne sie würde man den Menschen nicht als Menschen bezeichnen.

Nun umfaßt die tatsächl. gegebene N. des Menschen über diese Grundstrukturen hinaus immer auch Elemente, die fehlen könnten, ohne daß man deshalb nicht mehr v. menschl. N. sprechen dürfte. Unter theolog. Gesichtspunkt ist z.B. v. höchster Bedeutung die Berufung des Menschen zur übernatürl. Gottgemeinschaft, auf die es gemäß der Offenbarung Gottes bei seinem Wirken in der Welt eigentl. ankommt. Wenn der Mensch zu solcher Bestimmung tatsächl. berufen u. daher von "übernatürlichem Existential" gezeichnet wird, muß seine Ausrüstung dazu offenkundig viel mehr umfassen als die aufgezeigten Grundstrukturen. Diese stellen dann nur Teilelemente seiner N. in ihrer tatsächl. Beschaffenheit dar; Teilelemente, die notwendig zu ihm gehören (metaphysische N.); Teilelemente, die nicht die ganze tatsächl. gegebene Menschen-N. ausmachen, die aber unter dem Namen Natura pura zusammengefaßt werden, weil die Theologen damit klarmachen wollen, daß Gott den Menschen auch ohne die übernatürl. Berufung u. Begnadung hätte schaffen können (vgl. D 3819 [2318]) u. dabei dennoch einen wirkl. Menschen ins Dasein gerufen hätte, wenn nur dem Geschaffenen diese Grundstrukturen des Menschseins zu eigen gewesen wären (die Überlegungen darüber beginnen in der mittelalterl. Theologie; das kirchl. Lehramt hat den Begriff Natura pura nicht verwendet).

Damit erweist sich auch das aus den bleibenden Strukturen der menschl. N. abgeleitete natürl. sittl. Gesetz für das Auge des Theologen als Hilfskonstruktion, die dazu dient, die Unveränderlichkeit u. Allgemeinheit gewisser sittl. Forderungen aufzuzeigen, die ihren richtigen Platz aber erst innerhalb des neutestamentl. Gesetzes erhält.


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