Kompromiß
Karl Hörmann
Lexikon der christlichen Moral

LChM 1976, Sp. 902-906


I. Das sittl. Verhalten des Menschen erweckt weithin den Eindruck des Ungenügenden u. Unbefriedigenden: In nicht unbedeutenden Fragen kommt er nicht zur Klarheit (Unwissenheit), in anderen folgt er Fehlauffassungen (Irrtum), aus erworbenen Einsichten zieht er nicht die notwendigen Folgerungen u. im Tun weicht er mehr od. minder weit von ihnen ab. Ganze Kulturen erscheinen im Rückblick als von sittl. Halbheiten beherrscht; manche Übungen selbst des atl. Gottesvolkes bereiten unserem sittl. Urteil nicht geringe Schwierigkeiten. So müssen sich Moraltheologie u. Moralphilsosiphie mit dem sittl. K. befassen, dem Phänomen, daß der Mensch das sittl. Wünschenswerte (das Ideal) nicht ganz, sondern nur zum Teil erfüllt (auch in der Form, daß berechtigte Ansprüche gegeneinander stehen u. je nur z.T. berücksichtigt werden).


II. An diesem Versagen trägt die Verfassung des Menschen nicht geringe Schuld.


1. Sein Erkennen u. sein Können sind mangelhaft.


a) Ohne od. durch seine Schuld können ihm sittl Einsichten verschlossen bleiben od. kann er Irrtümern anhängen. Dabei ist zu beachten, daß zur sittl. Lebensgestaltung nicht schon das bloße Wissen in sittl. Fragen führt, sondern erst das Betroffensein durch die damit gemeinten Werte (im Gewissen).


b) Selbst wer von einem sittl. Wert betroffen ist u. seine Forderung anerkennt, kann sich aus mancherlei Gründen ohnmächtig fühlen, ihn vollkommen zu verwirklichen.


2. Zum mangelhaften Werterfassen u. Wertverwirklichen des einzelnen können Fehlmeinungen u. Fehlhaltungen der Gesellschaft, in der er lebt, beitragen. Jesus spricht von der Herzenshärte der Juden gegenüber der Forderung Gottes (Mt 19,8). In die christl. Sittlichkeit als Richtungssittlichkeit muß selbst die Kirche noch erkennend u. übend mehr u. mehr hineinwachsen (vgl. 2. Vat. Konz., DV 8).

III. Wie die Erfahrung lehrt, kann der Mensch manches Gute nur verbunden mit mitlaufendem Bösen erreichen. Die Moraltheologie hat seit langem überlegt, wie der Mensch in solchen Fällen zu einem sittl. verantwortbaren Verhalten kommen kann.


1. Oft steht er unter dem Eindruck, gleichzeitig von mehreren Seiten angefordert zu sein. Jede der Forderungen wäre zu erfüllen, wenn sie für sich allein erhoben würde; zugleich aber können sie nicht erfüllt werden. Mit der Entscheidung für eine von ihnen entscheidet man sich also gegen andere.

Die Moraltheologie trachtet, dem Menschen durch Richtlinien für Fälle solcher Pflichtenkollision zu verantwortbaren Entscheidungen zu helfen.


2. Viele Handlungen des Menschen sind geeignet, nicht bloß je eine, sondern mehrere Wirkungen hervorzubringen. Wenn sich im sittl. Urteil diese Wirkungen unterscheiden lassen in solche, die der Mensch anstreben darf, u. solche, die er nicht anstreben darf, erhebt sich die Frage, ob es ihm zusteht, um einer angestrebten guten Wirkung willen eine derartige Handlung mit zweierlei Wirkung zu setzen mit der mehr od. minder großen Gefahr, daß sich auch eine böse Wirkung einstellt, u. unter welchen Bedingungen es ihm zusteht.

Diese Überlegungen werden auch auf eine Handlung angewandt, von der jemand erkennt, daß ein anderer sie als Mithilfe zu seiner Sünde benützen will. Wieder stellt sich die Frage, ob u. unter welchen Bedingungen der Mensch, ohne die fremde Sünde zu billigen, eine solche Handlung setzen darf.

Ähnl. ist zu fragen, ob u. aus welchen Gründen jemand sich od. andere der Gelegenheit zur Sünde aussetzen darf.


3. Obwohl es klar zu sein scheint, daß man jede Sünde ablehnen soll, kann sich eine Situation so komplizieren, daß einem nur die Wahl bleibt, ein größeres od. ein kleineres (moralisches) Übel zuzulassen. Am besten wäre es natürl, man könnte beide verhindern. Wenn dies nicht mögl. ist, zeigt die Moraltheologie dem Menschen seine Verantwortung für das Bemühen, daß wenigstens das größere Übel ausgeschlossen wird u. es nur zum geringeren kommt.

Unter Umständen sieht die Moraltheologie es als gerechtfertigt an, daß man zum sittl. unrichtigen Verhalten eines Menschen, der dabei guten Glaubens ist, schweigt, wenn zu befürchten ist, daß er nach Aufklärung sein ungutes Tun fortsetzen würde, aber dann mit schlechtem Gewissen. Die bloß materiale Sünde des Unwissenden hält sie für geringeres Übel als die formale Sünde des Wissenden.


4. Es kann sein, daß ein Mensch aus einer Pflichtenkollision nicht herausfindet. Er hat den Eindruck, durch jede Entscheidung für eine der Forderungen andere zu vernachlässigen u. eben dadurch schuldig zu werden (casus perplexus). Wenn er die Frage weder selbst noch mit Hilfe anderer lösen kann, wird ihm geraten, wenigstens das anscheinend geringere Übel zu wählen, u. für den Fall, daß er nicht einmal das geringere Übel herausfinden kann, einfach einen von den Gegensätzen; seine Gewissensverfassung bewirke, daß auch eine Fehlentscheidung ihn nicht schuldig mache (vgl. Pflichtenkollision).


5. Dem Menschen, der über Erlaubtheit od. Unerlaubtheit eines Verhaltens, das zur Entscheidung steht, nicht ins reine kommen kann (zweifelndes Gewissen), will die Moraltheologie ebenfalls zu verantwortbarer Entscheidung helfen.


IV. Die Moraltheologie ist verpflichtet, die volle sittl. Richtigkeit des christl. Lebens (zu der auch die restlose Überwindung der Sünde gehört) aufzuzeigen. Dennoch darf sie nicht übersehen, daß nicht selten dem vollen richtigen Verhalten Schwierigkeiten entgegenstehen, die der Mensch in der gegebenen Wriklichkeit kaum überwinden kann. So taucht die Frage nach der Erlaubtheit des K.es auf: Darf der Mensch, solange er zur vollen Richtigkeit nicht fähig ist, sich damit begnügen, wenigstens so viel an Gutem zu tun, als ihm mögl. ist, u. darf man ihm sagen, daß diese Entscheidung in seiner Situation positiv zu bewerten u. als vertretbar zu bezeichenen ist? Darf der Mensch Gutes erstreben, auch wenn er weiß, daß entgegen seinem Willen Böses mitlaufen wird?

Wer sosehr auf der vollen sittl. Richtigkeit u. auf der Ausschaltung alles Bösen beharrt, daß er solche Formen des K.es verurteilt, verschreibt sich eher einer wirklichkeitsfremden Abstraktion als echter Verantwortungsethik. Sein "Alles od. nichts" zeugt von geringem Verständnis für das Werden der sittl. Persönlichkeit u. bewirkt, daß auch jenes Maß an Gutem, das trotz Schwierigkeiten getan werden könnte, ungetan bleibt u. daß das Böse auch in dem Maß, in dem es zurückgedrängt werden könnte, nicht gemindert wird. In welcher Weise eine allg. sittl. Norm zum konkreten Imperativ wird, das hängt eben nicht unwesentl. von den Gegebenheiten der Situatation ab.

Allerdings gibt es auch ein Zurückbleiben hinter der sittl. Forderung, das weniger auf das Nichtkönnen als auf das Nichtwollen zurückgeht.


1. Als vertretbar erscheint der K., wenn der Mensch, dem in seiner Situation das vollrichtige Verhalten nicht mögl. ist, die sittl. Forderung wenigsten so weit erfüllt, als er kann, u. aus den zur Entscheidung stehenden Lösungen, wenn sie alle mit Mängeln behaftet sind, wenigstens die relativ beste wählt. Der vertretbare K. weist immer über sich hinaus: Er drängt für die Zukunft zum Streben nach Besseren.


2. Der nicht vertretbare ("faule") K. dagegen bleibt für die Gegenwart hinter den positiven Möglickeiten zurück: Ihm fehlen der Einsatz für das mögl. Gute u. das Bedachtsein auf die am wenigsten mangelhafte Lösung. Selbst ein zeitweilig vertretbarer Kompromiß kann zum faulen werden, wenn er zur Dauerlösung (ohne Streben nach Verbesserung) gemacht wird.


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